Ich möchte eine Geschichte erzählen. Von einem Mann, der sich für einen Hund aus dem Tierschutz entschieden hat. Einem Hund namens Beijo.
Kürzlich kontaktierte mich dieser besagte Mann, nennen wir ihn Tom und bat mich um meine Unterstützung. Er wollte einen Hund aus dem Tierheim adoptieren, es sei sein erster Hund und er wolle Alles richtig machen. Tom war sehr interessiert daran, sein Wissen über den neuen Mitbewohner zu erweitern. Wenngleich er mit Hunden aufgewachsen war, betonte er, dass er sicher noch vieles lernen müsse.
Ich freue mich immer, wenn sich zukünftige Hundehalter informieren bevor der Hund da ist und wir vereinbarten einen Termin im neuen Zuhause, einen Tag nachdem Beijo einziehen sollte.
Über Beijo war wenig bekannt. Nur, dass er aus dem Ausland stammte, dort wohl in einer großen Gruppe von Hunden gehalten wurde und nun im deutschen Tierheim auf ein Zuhause wartete. In den ersten Tagen nach dem Umzug sind die meisten Vierbeiner noch recht zurückhaltend, sehr müde und etwas "derrangiert". Man merkt ihnen an, dass sie nach Orientierung suchen und wie sehr sie das Kennenlernen der neuen Umgebung anstrengt. Sie schlafen viel und sind meist anhänglich. Diese Zeit des, ich nenne es mal "Kulturschocks", nutze ich gerne, um Hund und Mensch die wichtigsten Regeln lernen zu lassen und sich aneinander zu gewöhnen. So vermeidet man, dass der Hund sich erst in einer Art "Verwöhnblase" einlebt und dann nach einigen Wochen die "echten" Regeln lernen muss.
Beijo begrüßte mich freundlich und schlief kurze Zeit später neben uns ein. So spannend wie sein neuer Mensch fand er das Erstgespräch dann doch nicht.
Warum erzähle ich das überhaupt Alles?
Was muss ein Hund lernen?
Als Hundetrainer möchte man natürlich gerne das Beste aus einer Trainingseinheit rausholen. Dem Besitzer möglichst viele Informationen und Übungen mitgeben und das am liebsten Alles auf einmal.
Manchmal kommt es aber auch vor, dass ich genau das Gegenteil empfehle: Bitte kein Hundetraining.
Beijo beherrscht kein einziges Signal zuverlässig. Weder Platz, geschweige denn Fuß, noch den zuverlässigen Rückruf. Woher auch.
Dennoch war die Verbindung zwischen den beiden sofort sichtbar. Das klingt selbst für eine Tierheilpraktikerin etwas esoterisch, beschreibt aber genau meinen Eindruck.
Sicherheitshalber ließ ich Tom eine Schleppleine da, denn ich hatte es schon häufiger erlebt, dass die traumhaften Vierbeiner angesichts einer großen Wiese plötzlich garnicht mehr so traumhaft waren und Vollgas gaben oder in einer Schrecksituation plötzlich verschwunden waren. Sicher ist sicher.
Unseren nächsten Termin vereinbarten wir am Rande des Huthparks. Ich wollte sehen, wie Beijo sich unterwegs, in einer fremden Umgebung mit Jagdoption und anderen Hunden verhält. Schon von weitem sah ich die beiden einträchtig durch den Park stiefeln, als wäre es schon immer so gewesen.
Jeden Richtungswechsel machte Beijo bereitwillig mit, wich den bellenden Hunden souverän aus und warf den freundlich gesinnten einen ebenso freundlichen Blick zu, während er Tom nur kurz von der Seite wich um ein wenig auszuweichen.
Beijo hat eine weitere Angewohnheit, deren Bedeutung Tom schnell heraus fand: Wann immer Beijo etwas überfordert war, "umarmte" er Tom. Er stellte sich auf die Hinterbeine, kletterte mit den Vorderpfoten an Tom hoch und hielt sich regelrecht an ihm fest, drückte seinen Kopf an Tom's Körper und wartete, bis er einen Vorschlag bekam, was zu tun sei.
Im Tierheim wurde Tom empfohlen, Beijo das vermeintliche Hochspringen sofort abzugewöhnen. Tom störte es aber nicht und er war froh darüber, dass Beijo so deutlich mit ihm kommunizierte.
Warum entscheiden wir uns für einen Hund?
Meist ist der Hauptgrund für die Hundeanschaffung der Wunsch nach einem Freund, einem Begleiter, der den Alltag teilt. Beijo bringt all das mit, hat aber überhaupt kein Interesse an irgendeiner dieser Beschäftigungen, die wir sonst in Hundeparks beobachten können: Wildes Toben, stundenlanges Bällchenjagen, Futter suchen oder um den Menschen hopsen und die verschiedensten Tricks vollführen. Er war einfach nur da. Auch Leckerlies interessierten ihn nicht besonders. Man könnte vermuten, dass Beijo so gestresst sei, dass er deshalb völlig in sich gekehrt und desinteressiert ist. Dem ist aber nicht so. Er ist einfach nur da, beobachtet, reagiert wenn nötig und trabt ansonsten treu neben seinem "neuen" (vielleich ersten eigenen) Menschen her.
Relativ schnell wird klar, dass Beijo zu den Hunden gehört, die keinen Spaß an immer gleichen Übungswiederholungen haben. Sollte man so einen tollen, zugewandten Vierbeiner nun mit stundenlangen Grundgehorsamsübungen langweilen? Wo er doch Alles mitbrachte, was Tom sich von einem Hund wünschte: Er begleitete ihn bereitwillig durch die Stadt, lag im Café unter dem Tisch, ist freundlich distanziert gegenüber fremdem Hunden und Menschen gegenüber vorsichtig aber ebenso freundlich. Obwohl er etwas für sich wirkt, ist er immer aufmerksam.
Wo hat er das gelernt?
Die Frage drängt sich auf: Wo hat Beijo gelernt, dass es angenehmer ist, nicht wie wild in der Leine zu hängen, sich an seinem Menschen zu orientieren, potenziellem Stress und Konflikten auszuweichen und sich an seinen Menschen zu wenden, wenn er selbst nicht weiter wusste? Hätte ihm das jemals jemand beigebracht, müsste er wohl auch in irgendeiner Form abrufbar sein. Das war er aber nicht. Jedenfalls nicht im klassischen Sinne eines "trainierten" Hundes. Er reagierte auf Tom's Rufen, kam in seine Richtung, entschied dann aber selbst, ob es "notwendig" war, schnell da zu sein, hielt sich einen Moment abwartend in Tom's Nähe auf um sich dann wieder anderen Beschäftigungen zuzuwenden.
Zurück zur Ausgangfrage: Was muss ein Hund können? Im Grunde ja eigentlich nur kommen, wenn man ihn ruft, man muss ihn stoppen können, sowohl aus dem Laufen als auch, wenn er grade in Begriff ist etwas zu tun, was er definitiv nicht tun soll. Das meiste Andere dient entweder dem Management von Situationen, die Beijo ohnehin schon intuitiv richtig meisterte, unserem Amusement oder, um dem Hund etwas zu ersetzen, ihn auszulasten oder ihn in möglichst kurzer Zeit so effektiv wie möglich zu beschäftigen.
Beijos Fall ist speziell, denn er wurde scheinbar noch nie von irgendeinem Menschen "erzogen" und hat einfach einen starken Bindungswillen. Dass er scheinbar viel Erfahrung mit den verschiedensten Umweltsituationen gesammelt hat und dementsprechend gelassen reagiert, ist für ehemalige Streuner nicht untypisch. Besonders ist aber, dass Beijo wirklich sehr glücklich zu sein scheint, in seinem neuen "Menschenleben", was für die wenigsten ehemaligen Streuner gilt. Insbesondere dann nicht, wenn sie die Einschränkung durch die Leine, die vielen unbekannten Umweltreize und vor allem, meist völlig überfordernde Erwartungen nicht erfüllen können und als negativ erleben. Viel zu häufig müssen ehemalige Streuner, vermeintlich in ein privilegiertes Leben "gerettet", ihr Dasein in einer Welt voller Einschränkungen und (aus Hundesicht) unlogischer Regeln fristen.
In Beijo's Fall haben sich zwei getroffen, die passen. Ein Hund, der seinen Menschen gesucht und gefunden hat, sich gerne binden und orientieren mag und ein Mensch, der seinem Hund versprochen hat "ihm niemals zu Schmerzen zuzufügen" und Beijo unvoreingenommen kennenlernen möchte, ohne unnötig überzogene Erwartungen zu haben.
Wie geht es weiter?
Natürlich muss Beijo zwei, drei Dinge lernen, um weder sich noch anderen Schaden zuzufügen. Zuverlässiger Rückruf muss einfach sein. Und in unserer, von Straßen durchzogenen Großstadtwelt, können zwei Meter eben schlicht "lebensentscheidend" sein. Deswegen wird jetzt geübt, mit Schleppleine und viel Streicheleinheiten.
Ansonsten hat Tom die Aufgabe, Beijo weiterhin in seinem Verhalten zu ermuntern und zu bestärken und vor allem: Den Charakter dieses tollen Hundes einfach so zu lassen, wie er ist.
Das soll natürlich kein Aufruf zum "Erziehung braucht er nicht" sein. Im Gegenteil. Aber manchmal lohnt ein freier Blick auf den Hund und die Frage: Was ist mit wichtig, welche Erwartungen und Aktivitäten sind noch hundegerecht und welche Anforderungen sind überzogen oder garnicht notwendig. Wir neigen dazu, altbewährtes irgendwann unhinterfragt zu kultivieren. Dabei geht es beispielsweise beim Warten an Straßenübergängen ja nicht darum, dass der Hund perfekt absitzt, sondern darum, dass er nicht überfahren wird oder seinen Menschen noch gleich mit auf die Fahrbahn zerrt. Ob er dabei sitzt, steht, liegt oder einen Handstand macht, ist ja "eigentlich" wurscht. Haben Sie also kürzlich einen Hund adoptiert, der Ihnen an jeder Kreuzung einen Handstand anbietet? Freuen Sie sich, verstärken Sie das Verhalten und lassen Sie sich nicht verunsichern, von anderen Hundehaltern, die Ihnen erklären, dass der Hund aber schon sitzen sollte. Sucht der Hund, so wie Beijo, auf ungewöhnlich intensive Art ihre Nähe, wenn er nicht weiter weiß und kommuniziert Ihnen damit seinen Konflikt, sollten Sie die "Das macht ein gut erzogener Hund aber nicht-Brille" absetzen, dies schätzen und ihn nicht dafür korrigieren, dass er damit nicht in das Schema passt. Außer natürlich, es stört Sie selbst, der Hund stört oder gefährdet sich oder sogar Dritte. Dann: Hundetraining olé. Unbedingt :-)
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Simone Beez (Dienstag, 22 August 2017 17:24)
Welch herrlich entspannter Artikel, der die Beziehung zwischen zwei Lebewesen in den Vordergrund stellt. Und nicht die Erziehung hin zum vermeintlich unbedingt notwendigen blinden Gehorsam.
Und es freut mich zu lesen, dass auch andere Menschen Glück haben mit ihrem "Findelhund".
Vielen Dank für diese Geschichte und Deine ehrliche und offene Meinung dazu!
Wegen unserer Bonnie komme ich in den nächsten Tagen auf euch zu, dieser Artikel hat mir gezeigt, dass wir bei euch eine passende Antwort auf meine derzeitige Fragestellung finden werden.
Weiterhin viel Erfolg mit euren Projekten!